Eine Person mit weißem Pullover steht vor weißer Wand und farbige Lichtstreifen fallen über ihr Gesicht

Wie Gefühle entstehen

Die Theorie konstruierter Emotionen
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Inhaltsverzeichnis

Wozu eigentlich Gefühle?

Du gehst nichts ahnend zu dieser Party und plötzlich steht jemand vor dir, dem du auf keinen Fall begegnen wolltest. Angst, Wut, Scham, Eifersucht? Angenehm ist anders.

Emotionen können uns den Boden unter den Füßen wegziehen. Von einem Moment auf den anderen. Wie kann das sein? Und vor allem: wozu eigentlich?

Emotionsforschung: Emotionspsychologie

Es ist nicht etwa so, dass sich Emotionsforscher*innen einig wären. Was auch immer du dir zum Thema Gefühle ausdenkst: du wirst irgendwo passende Thesen dazu finden.

Das liegt nicht nur daran, dass so ungefähr jede Disziplin – von Philosophie bis Medizin – sich damit beschäftigt. Es gibt auch innerhalb eines Fachbereichs verschiedene Forschungsrichtungen, die jeweils ihren eigenen Grundsätzen folgen.

Die Theorie, auf die ich mich in diesem Artikel beziehe, stammt von der Psychologin Lisa Feldman Barrett. Sie nennt sich die Theorie der konstruierten Emotionen. Ihr Ansatz wird nicht nur von aktuellen Ergebnissen der Neurowissenschaft gestützt. Er ist auch gut geeignet als Basis für einen individuellen, selbstbestimmten und wirksamen Umgang mit Emotionen im Alltag.

Hinweis: zwischen den deutschen Begriffen Emotion und Gefühl wird nicht unterschieden, sie werden gleichbedeutend verwendet. Lisa Feldman Barrett benutzt den englischen Begriff „emotion“.

Wie entstehen Gefühle?

Allostase: Balance für unser Überleben

Alles beginnt damit, was dein Gehirn aus bzw. über deinen Körper wahrnimmt und wie es aufgrund dessen deinen Stoffwechselzustand einschätzt (Interozeption).

Damit du lebensfähig bleibt, muss dein Körper (in Abhängigkeit von den wechselnden Anforderungen) alle Werte und Faktoren ständig regulieren. Er muss eine Stabilität bewahren, indem er ständig etwas verändert. Das nennt man Allostase.

Vorstellen kann man sich das, wie das Surfen auf einer Welle: nur wenn du dich ständig bewegst, hältst du dich auf dem Surfbrett. Bleibst du stehen, fällst du ins Wasser.

Damit du dich in dieser Balance halten kannst, unterstützt dich dein Gehirn mit einer Bewertung: Angenehm ist für dich alles, was dieser Balance zuträglich ist oder sie erhält. Unangenehm, alles was ihr abträglich ist.

Affekt: Basis unserer Emotionen

Das ist die Basis für dein gesamtes Erleben, der sogenannte Affekt. Er hat zwei Dimensionen:

  1. die Valenz, also wie angenehm, neutral oder unangenehm etwas ist und
  2. die Erregung, wie stark oder schwach dich das aktiviert.

Du verortest dein Befinden immer irgendwo in diesen Dimensionen, bewusst oder nicht. Wo genau, hängt letztendlich von unzähligen Einzelwerten ab: z. B. Blutzucker, Sauerstoffsättigung oder Hormone.

Dein Affekt ist ein Anzeiger für dich, wie du auf deinem Surfbrett gerade stehst. Eine Skala, mit der du deine Gefühle besser kennen lernen und nach deinem Affekt einordnen kannst, findest du übrigens in deiner Gefühlsliste.

Typisch ist dabei, dass er keine genauen Details enthält, sondern dir eben nur grob die Richtung (unangenehm, angenehm) und die Intensität (stark, schwach) zeigt. Es ist also etwas diffus.

Dabei belässt dein Gehirn es aber nicht. Damit du konkret etwas damit anfangen kannst, macht es daraus etwas viel Komplexeres: ein Gefühl.

Für dieses Projekt braucht es erstmal noch mehr Material: deine Erfahrungen. Und die entstehen durch Vorhersagen und werden zu sogenannten Konzepten:

Emotionen und das Gehirn: Zukunft vorhersagen

Dein Gehirn simuliert ständig, was wohl als nächstes passiert, in dir und außerhalb von dir. Es konstruiert ständig alle möglichen und wahrscheinlichen Szenarien für einen bestimmten Zweck: damit du überlebst. (Das ist übrigens ein Grundsatz aus predictive processing-Modellen – und damit kann man auch Gedanken gut erklären.)

Hier ein ganz einfaches Beispiel: Stell dir vor, du gehst über die Straße und plötzlich kommt unerwartet ein Auto auf dich zu. Könntest du nur reagieren, also gar nicht vorhersehen, dass das Auto dich vielleicht anfährt, wärst du gleich in einen Unfall verwickelt. Da dein Gehirn aber blitzschnell ein Szenario der Zukunft entwirft, rennst du sofort auf die andere Straßenseite und bist rechtzeitig in Sicherheit.

Dein Gehirn schätzt also ein

  1. in was für einer inneren und äußeren Situation du dich gerade befindest,
  2. was wahrscheinlich als nächstes passieren wird und
  3. wie du damit am besten umgehst.

Das Ziel dabei ist es, möglichst genau voraus zu sehen, welche Bedürfnisse dein Körper als nächstes haben wird. Denn nur so kannst du ja Allostase betreiben und in Balance bleiben. Anderenfalls könntest du nicht plötzlich vor dem Auto davon rennen, weil deine Muskeln gar nicht aktiviert wären.

Damit das so funktioniert, werden alle Vorhersagen stetig korrigiert und angepasst. Dein Gehirn gleicht sie ständig weiter mit Sinnesdaten aus deiner Umgebung und deinem Körper ab.

Das alles ist ein unendlicher, dynamischer, blitzschneller Prozess. Und passiert ohne besondere Anstrengung, meistens ohne dass du es merkst. Unglaublich faszinierend oder?

Was sind Gefühle? Konzepte!

Je öfter du bestimmte Situationen erlebst, desto stabiler und eindeutiger werden die Vorhersagen. Das ist wie in jedem Lernprozess: wird dir als Kind zum ersten Mal ein Ball zugeworfen, weißt du gar nicht, wozu; geschweige denn, dass du ihn fangen könntest. Später nach Jahren im Sportverein ist das anders. Du weißt genau, wo der Ball auftreffen wird, dass er dir gerade zugespielt wird, damit du einen Korb wirfst und wie du deinen Körper bewegen musst, damit dir das gelingt.

Deine Vorhersagen werden damit zu mentalen Konzepten. Das ist eine Sammlung von verkörperten Repräsentationen. Es ist alles Wichtige enthalten:

  • ein Entwurf der Zukunft,
  • die Bedeutung des Ganzen für die Allostase und auch gleich
  • passende Handlungsmöglichkeiten.

Deswegen finden Gefühle übrigens auch nicht nur in einem bestimmten Teil des Gehirns statt, wie z. B. dem limbischen System. Weil Emotionen so eine komplexe Angelegenheit sind, ist das ganze Gehirn beteiligt.

Neben deinem persönlichen Erleben sind natürlich auch andere Personen an deinen mentalen Konzepten beteiligt. Seien es deine direkten Bezugspersonen oder deine Kultur allgemein, alles wird von deinem Gehirn in deine Erfahrungen mit eingewoben.

So lernst du nicht nur einen Ball zu fangen oder dich mit anderen zu verständigen: so lernst du auch zu fühlen.

Welche Funktion haben Emotionen?

Vorbereitung von Handlungen

Nochmal zur Erinnerung: eine Emotion braucht

  1. einen Affekt (aus der Einschätzung und Bewertung deiner inneren Balance) und
  2. deine Erfahrungen (die Essenz aus vielen Vorhersagen und deren Korrekturen).

Sie ist also ein mehr oder weniger angenehm und intensiv aufgeladenes mentales Konzept, z. B. mit dem Etikett „Freude“ oder auch „Wut“.

Der Zweck dahinter ist, dich so zu „bewegen“, dass sich eine innere Balance, Allostase, wieder einstellt oder erhält. Das könnte heißen, schnell wegzulaufen, dir etwas zu kochen, zu schlafen, zu kämpfen – das eben, was (erfahrungsgemäß!) jetzt das Beste ist. Ein Gefühl entsteht ganz individuell aus dir heraus und ist auf dich persönlich angepasst.

Auswahl von passenden Handlungen

Und es ist nicht nur auf dich angepasst, sondern auch auf die gegenwärtige Situation. Nur wenn dein Gehirn auch deine Umgebung berücksichtigt, kann es es vorhersagen, was du als nächstes brauchen wirst. Das heißt, eine besondere Rolle spielt ein weiteres Element

  1. die aktuelle Wahrnehmung deiner Umgebung.

Damit ist alles gemeint, was um dich herum passiert; sei es der Sonnenuntergang, das Miezen deiner Katze oder das Klingeln eines Telefons – bewusst wahrgenommen oder nicht.

In dem Moment, in dem du dich irgendwie fühlst, hat dein Gehirn die Wahrnehmung aus deinem Inneren, aus deiner Umgebung und deine Erfahrungen zusammengebastelt. Daraus wird dann dein ganz selbstverständlicher Gefühlsalltag.

Läuft alles nach Plan, verhältst du dich in jeder Sekunde auf eine Weise, die dich in optimaler innerer Balance hält!

Gefühlsirrtümer: welche Bedeutung haben Emotionen?

So optimal läuft es leider nicht immer.

Das kann an einem typischen Nebeneffekt von Gefühlen liegen: wir verwechseln manchmal die Zusammenhänge.

Du bist wütend, weil dein Partner nicht aufgeräumt hat. Du freust dich, weil heute die Sonne scheint. Du bist traurig, weil deine Lieblingsserie vorbei ist.

Es könnte aber auch ganz anders sein.

  • Vielleicht bist du wütend, weil du Kopfschmerzen hast. Dein Partner gehört mit seiner schmutzigen Tasse nur zufällig zu deiner Umgebung.
  • Vielleicht freust du dich, weil du endlich mal wieder richtig gut geschlafen hast. Die Sonne scheint nur zufällig auch noch.
  • Vielleicht bist du traurig, weil dein Blutzucker sehr niedrig ist. Die Serie endet nur zufällig auch gerade.

Das erklärt übrigens auch, warum an Tagen mit Bauchkrämpfen einfach alles mies ist: dein Gehirn bietet dir laufend eine passende Geschichte zu Bauchkrämpfen an.

Aufgrund dieser „Gefühlsgeschichten“ kann es sein, dass du ungeeignete Schlüsse ziehst. Vielleicht schreist du z. B. deinen Partner an, dabei wäre Entspannung in der warmen Badewanne besser gegen deine Kopfschmerzen geeignet.

Abgesehen von solchen Irrtümern, können Emotionen aber auch aus anderen Gründen nicht funktionieren. Das kann z. B. daran liegen, dass

  • dein Stoffwechselzustand oder die Verarbeitung von Reizen „irritiert“ ist (z. B. durch Drogen oder Infektionen),
  • deine aktuelle Umgebung extrem herausfordernd ist (z. B. im Krieg),
  • keine oder zu wenige passende mentale Emotionskonzepte vorhanden sind (z. B. aufgrund einer schwierigen Vergangenheit oder bei Konfrontation mit einer neuen kulturellen Umgebung).

Komplex und individuell: wie viele Gefühle kennst du?

Was sich wie für dich anfühlt, ist eine höchst individuelle Angelegenheit. Was ein Gefühl bedeutet und welche Vorhersagen oder Handlungsempfehlungen darin stecken auch. Was für dich bedrohlich wirkt, kann für jemand anderen ein britzeliges Vergnügen sein und anders herum.

Es kommt eben immer darauf an: was passiert in deinem Körper, in deiner Umgebung und welche Erfahrungen hast du schon gemacht.

Je größer die Auswahl von Gefühlen in dir ist, also je mehr viele verschiedene Konzepte du hast, desto besser kannst du ein für den Moment genau passendes finden. Lisa Feldman Barrett empfiehlt daher auch das eigene Gefühlsvokabular zu erweitern – das hat auch gleichzeitig den Vorteil, dass du Gefühle besser benennen und beschreiben kannst.

Ich habe dir dazu eine große Gefühlsliste mit Anleitung und Erklärung als PDF zusammengestellt – viel Freude beim Experimentieren.

Häufige Fragen

Quellen

Hier einige Publikationen zur Theorie der konstruierten Emotionen:

  1. Barrett, Lisa Feldman: How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain. 2018.
  2. Barrett, Lisa Feldman: Seven and a Half Lessons About the Brain. 2021.
  3. Barrett, Lisa Feldman: The theory of constructed emotion: an active inference account of interoception and categorization. 1 - 23, 2017.
  4. Russell, James A. / Barrett, Lisa Feldman: Core affect, prototypical emotional episodes, and other things called emotion: Dissecting the elephant. Journal of Personality and Social Psychology, 76 (5): 805-819. 1999.