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Was sind Gedanken?

Verkörperte Sichtweisen aus Philosophie und Psychologie
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Inhaltsverzeichnis

Was sind Gedanken und was ist der Geist?

Tja, gute Frage. Gedanken scheinen irgendwie ätherisch. Wortfetzen, innere Bilder, Sätze, imaginäre Dialoge…immer da und doch schwierig zu fassen. Und wenn du sie nicht gerade gezielt benutzt, z. B. um einen Text zu schreiben, kreisen sie so vor sich hin.

Was noch? Irgendwas haben sie mit dem Gehirn zu tun, Synapsen, neuronale Netzwerke. Der Geist? Naja, alles was nicht Körper ist?!

Sehen wir mal in die die Kognitionswissenschaft. Die muss es ja wissen, immerhin beschäftigt sie sich mit Kognitionen: also Denken, Wahrnehmen, Erinnern, Lernen, Aufmerksamkeit usw.. Los geht’s:

Gedanken, Gehirn, Geist – traditionelles Verständnis

In der klassischen Kognitionsforschung sind Gedanken symbolische, mentale Repräsentationen der Welt. Im Gehirn gespeichert, mit Worten beschreibbar.  Mit unserer Fähigkeit zu denken, basteln wir diese Repräsentationen dann mehr oder weniger geschickt zusammen. Je besser gebastelt, desto smarter und intelligenter.

Gedanken sind aus in dieser Tradition dann gewöhnlich Inhaltselemente des Geistes. Sie entstehen aus computergleichen Berechnungen – ausschließlich im Gehirn – und bringen uns z. B. zu einer bestimmten Handlung: Der Geist ist quasi das (imaginäre) Gefäß der Gedanken.

Gut durchdacht entscheidest du dir das neue Fahrrad zu kaufen. Dann gehst du in den Laden und kaufst es. Dein Körper ist nach dieser Auffassung einfach dein Werkzeug und deine Umgebung eine Bühne.

Diese kühle Idee kommt aus eine Perspektive, die Gedanken und Körper als getrennt und unabhängig voneinander betrachten. Alles Relevante spielt sich ausschließlich im Kopf ab.

Es gibt aber auch noch Forschung, die das Thema anders angeht und sie eignet sich, um Gedanken _praktisch_neu zu verstehen:

Körper und Geist: die Philosophie & Psychologie der Verkörperung

Unter dem Stichwort Embodied Cognition finden sich mittlerweile vier solcher Strömungen, die Kognitionen (also auch Gedanken) anders erklären: die 4E’s. Manche nennen auch noch ein paar mehr; bleiben wir aber erst mal bei diesen vieren.

Das gemeinsame Element: Die Trennung von Körper und Geist bzw. Psyche wird durchlässig oder aufgehoben. Stattdessen rücken das Zusammenspiel von Körper, Umwelt und Handlungen in den Vordergrund. Hier ein paar Details dazu:

Embodied Cognition – die 4E's

Embodied Mind

Dieser Begriff wird oft doppelt verwendet: zum einen fokussiert er im engeren Sinne den Körper in kognitiven Prozessen. Demnach macht die exakte körperliche Beschaffenheit bestimmte mentale Zustände überhaupt erst möglich, z. B. die deiner Knochen und Muskeln und deren Verhältnis zueinander.

Zum anderen wird „embodied mind“ als Oberbegriff für die Verkörperung in der Kognitionswissenschaft benutzt. Der Körper ist grundlegende Voraussetzung dafür, dass du z. B. überhaupt irgendetwas denkst. Außerdem entstehen kognitive Prozesse nur in Kombination von Körper und Geist bzw. Psyche, weil sich ein Körper (und damit auch das Gehirn und Nervensystem) nur in der Interaktion mit der Umwelt evolutionär entwickelt hat. Wie sollen Geist und Körper da unabhängig von einander existieren?

Diese Auffassung ist die Basis für die drei weiteren Strömungen:

Extended Mind

Die besondere Idee ist hier, dass Kognitionen nicht an der Körpergrenze aufhören, sondern sich vielmehr auch auf z. B. dein Smartphone oder Notizbuch erstrecken. Alles, was einen kognitiven Prozess unterstützt, wird in die Definition und Erklärung einbezogen – alles Materielle und sogar die „außerkörperliche“ Welt

Embedded Mind

Ganz soweit geht diese Strömung nicht. Zwar unterstützt die Umwelt kognitive Prozesse, trotzdem werden sie nicht zum Bestandteil. Körper und Umwelt haben aber trotzdem eine hohe Bedeutung – sowohl individuell als auch evolutionär. Der Fokus liegt auf der genauen Situation, in die kognitive Prozesse eingebettet sind.

Enactive Mind

Für diese Strömung ist das Handeln eines Organismus entscheidend. Erst durch die aktive Interaktion mit der Umwelt können kognitive Prozesse überhaupt entstehen. Was und wie du wahrnimmst und wie du handelst, schaffen die Voraussetzung dafür, mit deiner Umwelt zu interagieren. Das wiederum ist abhängig von deinen individuellen Erfahrungen aus der Vergangenheit und begrenzt durch deine Möglichkeiten als Organismus.

Was heißt das jetzt genau für unsere Frage nach den Gedanken?

Gedanken und mentale Repräsentationen

Embodied cognition macht einen entscheidenden Unterschied. Mentale Repräsentationen (also auch das, was wir als Gedanken kennen) haben in klassischen Ansätzen ausschließlich etwas mit dem Gehirn zu tun. In verkörperten Varianten ist die Grundlage für Repräsentationen die Wechselwirkung aus Körper, Handlung und Umgebung.

Kurz gesagt: deine Gedanken finden nicht separat im Kopf statt. Körper und Geist bzw. Psyche funktionieren nicht getrennt von einander. Das ist das wichtigste Kernelement. So richtig geklärt ist die Frage nach Gedanken dann aber immer noch nicht. Wie funktioniert das mit den Repräsentationen?

Manche radikale embodied cognition-Forscher*innen bestreiten mentale Repräsentationen mehr oder weniger komplett. Demnach entstehen Kognitionen (egal ob Wahrnehmen oder Denken) im augenblicklichen Fluss des Lebens, also immer „online“. Deswegen bräuchte man auch keine „offline“ Repräsentationen.

Argumente dafür beginnen z. B. bei Bakterien: offensichtlich gelingt es ihnen zielgerichtet Nahrung, also z. B. Zucker, zu finden und verarbeiten – ganz ohne Gehirn und Repräsentationen.

Einige sagen, für einen Teil kognitiver Prozesse, also z. B. für Wahrnehmung, sind Repräsentationen zwar unnötig, aber für andere, z. B. das Benutzen von Sprache, gäbe es sie dann schon.

Und dann gibt es noch die, die Körper und Umgebung zwar miteinbeziehen. Das Gehirn inklusive mentaler Repräsentationen bleibt aber doch die entscheidende Instanz (auch grounded cognition-Ansätze genannt).

Embodied Cognition – was ist wahr?

Für alles gibt es Anhaltspunkte aus wissenschaftlichen Studien. Aber vieles ist bisher eine Frage der Interpretation von Ergebnissen. Es gibt in der Kognitionswissenschaft noch einiges zu klären. Dementsprechend wurde und wird unter Expert*innen weiterhin sehr, sehr viel diskutiert.

Immerhin sind mittlerweile die meisten Wissenschaftlerinnen davon überzeugt, dass der Körper überhaupt eine Rolle spielt.

Gedanken verstehen: Predicting-processing-Modelle

Eine Gedankenpraline möchte ich dir zum Abschluss nicht vorenthalten: sogenannte predicting processing-Modelle. Sie bieten eine interessante Erklärung dafür, wie man kognitive Prozesse, also unter anderem Gedanken (und übrigens auch Emotionen) verstehen kann.

Zur groben Einordnung: Die grundlegenden Annahmen befinden sich im embodied cognition-Mittelfeld. Zwar sind sie stark an Körper, Umgebung und Handlungen orientiert – mentale Repräsentationen gibt es aber trotzdem und das Gehirn hat eine zentrale Rolle.

Die Rolle der Gedanken (aka „Repräsentationen“)

Mit verkörperten, mentalen Repräsentationen gibt es hier zwar „offline“-Konzepte. Sie haben aber immer einen Bezug z. B. zu deiner sensorischen aktuellen und vergangenen Wahrnehmung. Hast du schon mal Wasser auf deinem Körper gespürt, ist genau das mit dem Gedanken an „baden“ verbunden. Und das gilt für alles, was du denkst – es gibt immer eine sensorische Verbindung.

Die Aufgabe des Gehirns: Vorhersagen

Das benutzt das Gehirn um seine primäre Aufgabe zu erfüllen: nämlich Vorhersagen zu machen. Dadurch kannst du viel schneller mit Anforderungen umgehen, als wenn du nur reagieren könntest. Du hast im quasi immer eine Kristallkugel dabei.

Die Zukunftsszenarien deines Gehirns beziehen sich auf die sensorischen Simulationen, die gleich entstehen werden: „gleich wird der linke große Zeh warm“, „gleich wird es sehr hell“, „gleich kommt der nächste Buchstab“…funktioniert, oder?

Situationsabhängig gewinnt immer die für dein Gehirn wahrscheinlichste Hypothese. Diese Erwartungen (top-down) treffen dann auf eintretende Signale (bottom-up) und der Abgleich ergibt entweder „passt alles“ oder „Achtung: Fehler“.

Vorhersagefehler sollen natürlich möglichst minimiert werden, also werden die Hypothesen und damit auch mentalen Repräsentationen entsprechend angepasst. Aber nicht nur das; in diesen Prozessen sind auch deine Handlungen beteiligt:

Sagen wir du schließt deine Wohnungstür auf und dein Gehirn prognostiziert, dass du gleich deine Katze sehen wirst (Vorhersage). Dann könnte es sein, dass du ins Wohnzimmer gehst und deinen Kopf drehst (Handlung) bis du sie auf deinem Sofa entdeckt hast (Bestätigung der Vorhersage). Das bedeutet, dein Gehirn ist nicht nur aktiv, um Wahrnehmungen zu vorherzusagen, sondern auch um sie herbeizuführen.

Und das bedeutet: du optimierst nicht nur in deinen Vorhersagen, sondern auch passende Handlungen. Du sorgst also aktiv dafür, dass sich Erwartungen bestätigen – was sowohl Chancen als auch Risiken birgt, je nach Erwartung eben.

Abstraktes Denken

Durch dieses ständige ganz-körperliche Jonglieren mit Vorhersagen und deren Überprüfung kommst du zu verkörperten, mentalen Repräsentationen. Das ermöglicht dir „offline“ Vorhersagen für imaginäre Situationen: du stellst dir die Welt vor. Das ist dann ein weiteres Level des Denkens. Dadurch kannst du z. B. eine Party planen und dich darüber mit anderen austauschen. Oder du sitzt auf deinem Sofa und grübelst.

Und noch einmal: auch das passiert keineswegs von Körper und Umgebung losgelöst. Vielmehr bist du auch dann noch untrennbar mit der Welt verbunden. Deine Gedanken bewegen sich immer noch im Netz deiner aktuellen Wahrnehmungen, eingebettet in dein Umfeld. Und sie sind immer verankert in deinen vergangenen Erlebnissen, ganz körperlich.

Was heißt das alles nun für den Alltag?

Verkörperte Gedanken in deinem Alltag

Gedanken können sich verändern, wenn du z. B. über deinen Körper etwas anderes wahrnimmst, in einer anderen Umgebung bist oder anders handelst.

Wenn du an Gedanken also etwas verändern willst, musst du nicht zwingend auch dort anfangen. Du kannst auch bei deinen Füßen, dem Licht in deiner Wohnung oder dem Gespräch mit deiner Nachbarin beginnen. Alles wirkt aufeinander ein.

Geist bzw. Psyche sind nicht getrennt von deinem Körper. Die ätherische Erscheinungen, Wortfetzen, innere Bilder, Sätze, imaginäre Dialoge: alles ist durch und durch verkörpert. Und sind sie nicht fix und unveränderlich, sondern flüssig, offen und anpassbar – wenn du es zulässt, dass dein Gehirn neue Hypothesen bildet.

Häufige Fragen

Quellen

Zum Vertiefen und Weiterlesen:

Gute Zusammenfassungen und Einblicke zum Thema „embodied cognition“:

  1. Fingerhut, Joerg / Hufendiek, Rebekka: Philosophie des Geistes: Philosophie der Verkörperung. Die Embodied Cognition-Debatte. Information Philosophie, 3 / 2017.
  2. Fingerhut, Joerg et al.: Philosophie der Verkörperung. Grundlagentexte zu einer aktuellen Debatte. 2013.
  3. Ein Internetportal auf dem Philosoph*innen dazu diskutieren: http://philosophyofbrains.com/

Bekannte Bücher von Forscher*innen zu „predictive-processing“-Modellen:

  1. Clark, Andy: Surfing Incertainty: Prediction, Action, and the Embodied Mind. 2016.
  2. Barrett, Lisa Feldman: How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain. 2018.