Inhaltsverzeichnis
- Leben ohne Enttäuschung?
- Erwartungen sind wertvoll
- Erwartungen für mehr Orientierung
- Erwartungen in Beziehungen
- Der Sinn von Enttäuschung
- Enttäuschte Erwartungen in der Psychologie
- Enttäuschung ist eine Bewertung
- Erst enttäuscht, dann traurig, dann resigniert…
- Vom Leben enttäuscht – tiefe Lebensthemen
- Das Problem: Enttäuschung nicht mehr ertragen können
- Enttäuschungen als innerer Kompass
- Mit Enttäuschungen umgehen
- Häufige Fragen
Leben ohne Enttäuschung?
Traurig, verletzt, enttäuscht und dann dieser Satz: „wenn du keine Erwartungen hast, kannst du auch nicht enttäuscht werden“…
Zieht sich bei diesem Satz in dir auch alles zusammen?
Ich finde, es fühlt sich nach verbaler Ohrfeige an: „selber schuld, du Trottel, hättest’e halt mal nichts erwartet“.
Stellen wir uns mal probeweise ein Leben ohne Erwartungen vor:
Du stehst morgens auf, gehst ins Bad und drehst den Wasserhahn auf – einfach nur so, denn du erwartest nicht etwa, dass da auch Wasser rauskommt.
Später auf dem Weg zur Arbeit drückst du deinem Lieblingsbäcker ein paar Münzen in die Hand. Aber du denkst nicht mal daran, dass er dir dafür ein knuspriges Croissant überreichen könnte.
Abends triffst du deine*n Partner*in. Es ist ganz egal, ob sie*er freundlich zu dir ist und ihr einen schönen Abend zusammen verbringt – oder ob sie*er dich ignoriert und Besseres zu tun hat.
Alles kein Problem: keine Erwartung, keine Enttäuschung! So soll man also leben…
Absurd? Ja, finde ich auch.
In diesem Artikel erfährst du
- warum es lebensnotwendig ist, Erwartungen zu haben und Enttäuschung wahrnehmen zu können,
- wie Erwartungen mit deiner Identität und deinen Lebensthemen zusammenhängen,
- wie Erwartungen und Enttäuschungen zu deinem inneren Kompass werden können und
- was im Umgang mit Enttäuschung wirklich wichtig ist.
Lass uns eintauchen!
Erwartungen sind wertvoll
Erwartungen für mehr Orientierung
Wie schon gesagt: wir erwarten ständig irgendetwas – ob von Gegenständen, dem Wetter, uns selbst oder anderen Menschen.
Und dabei erwarten wir immer in eine ungewisse Zukunft hinein.
Gerade wegen dieser Ungewissheit machen wir das: wir schaffen uns durch Erwartungen mehr Orientierung für unseren Alltag und unser Leben. „Gestern kam aus dem Hahn Wasser, dann kann ich heute da wohl mein Glas füllen“.
Verhalten wird etwas vorhersehbarer. „Der Verkäufer scherzt immer so freundlich mit mir, das wird er heute sicher auch tun“.
Bestimmte Reaktionen scheinen wahrscheinlich. „Wir lieben es, zusammen ins Kino zu gehen – er freut sich bestimmt total, dass ich Karten gekauft habe“.
Ob das alles tatsächlich so eintrifft, weißt du erst, wenn es soweit ist und du deine Erwartung überprüfst. Das hat also nichts mit absoluter Sicherheit zu tun.
Aber du kannst dich an etwas orientieren und es macht dich entscheidungs- und handlungsfähig – und wenn du deinen Alltag mal so reflektierst, erfüllen sich auch erstaunlich viele Erwartungen, oder?
Erwartungen in Beziehungen
Vor allem in Beziehungen sind Erwartungen wichtig.
Interessanterweise baut sich sogar unsere gesamte Kommunikation auf Erwartungsstrukturen auf: Z. B. erwarte ich, dass meine Nachbarin von mir erwartet, dass ich sie grüße. Und das tue ich dann auch – ebenfalls mit der Erwartung zurückgegrüßt zu werden. Soziologischen Theorien zufolge gäbe es keine Gesellschaft ohne solche Erwartungsstrukturen.
Trotzdem ist es tatsächlich besonders unwahrscheinlich, dass sich gerade hier unsere Erwartungen erfüllen und das tun sie auch oft genug nicht.
Der Grund: die Annahmen, die aus unseren Erwartungen entstehen, beziehen sich auf lebendige, selbstbestimmte Wesen. Und diese sind nicht durchschaubar, schwer vorhersagbar, flexibel und in ständiger Veränderung. Das gilt ohne Ausnahme für dich und für jedes andere Lebewesen.
Dazu kommt, dass wir in unterschiedlichen inneren Welten leben. Was ich unter Zuverlässigkeit verstehe, ist etwas anderes als das, was du darunter verstehst. Blumen zum Geburtstag bedeuten mir etwas anderes als dir. Der eine Spruch ärgert mich, aber du findest ihn vielleicht lustig. Und so weiter – du weißt, was ich meine.
Also auch hier gilt: Erwartungen zu haben und auf sie zu reagieren, ist sinnvoll und geschickt. Wir können nur so miteinander leben und uns aufeinander beziehen.
Es gibt eben nur keine wirklich sichere Vorhersagemöglichkeit und deswegen ist es zutiefst menschlich, regelmäßig Enttäuschung zu erleben.
Und das hat auch einen Sinn:
Der Sinn von Enttäuschung
Enttäuscht zu sein, erlaubt es dir, deine Vorhersagen und Vorhersage-Strategien anzupassen und zu verfeinern. Das ist die zentrale und wichtige Aufgabe von Enttäuschung.
Dazu sollten sie wenigstens einigermaßen zuverlässig zutreffen. Und das macht es nötig, sie immer mal wieder anzupassen: du brauchst regelmäßige Erwartungs-Updates.
Enttäuschung ist dein Signal, dass es jetzt Zeit für so ein Update ist.
So weit, so gut. Klingt ja theoretisch ganz easy.
Warum ist Enttäuschung, aber so schmerzhaft?
Enttäuschte Erwartungen in der Psychologie
Je nach psychologischer Gefühlstheorie ist Enttäuschung ein bisschen anders definiert und kategorisiert. Manchmal wird sie auch gar nicht als eigenes Gefühl angesehen.
Das ist allerdings an dieser Stelle unwichtig, denn: deine Enttäuschung ist das, was du dazu fühlst. Wie würdest du dieses Gefühl einer Person beschreiben, die es nicht kennt? Eher unangenehm, oder?
Enttäuschung ist eine Bewertung
Das ist interessant, denn im Kern heißt Enttäuschung ja nur, dass etwas nicht so eingetreten ist, wie wir es erwartet haben.
Trotzdem ist die erste Assoziation meistens so etwas wie:
Ich habe erwartet (und mir gewünscht), dass ich zur Hochzeit eingeladen werde – aber sie haben nur meine beste Freundin eingeladen.
Enttäuschung heißt aber auch:
Ich habe erwartet (und befürchtet), bei dieser Prüfung durchzufallen und stattdessen habe ich bestanden.
Eine angenehme Überraschung ist unproblematisch und fällt uns oft nicht mal auf. Unser Fokus liegt gewöhnlich viel mehr auf enttäuschten Wünschen und darum geht es in diesem Artikel auch vorrangig.
Behalte aber mal im Hinterkopf, dass in Enttäuschung bereits eine individuelle Bewertung steckt. Das heißt, es ist bereits mehr als nur die Erkenntnis von „es ist anders als vorhergesagt“. Vielmehr hat sie zwei Komponenten:
- Es ist nicht, wie ich es angenommen habe.
- So wie es ist, sollte es eigentlich nicht sein.
Erst enttäuscht, dann traurig, dann resigniert…
Und aus diesem Grund schließen sich in der Regel auch direkt weitere Gefühle an. Das können z. B. sein:
- Trauer,
- Angst,
- Wut,
- Eifersucht oder
- Neid.
Erlebst du besonders häufige oder heftige Enttäuschungen, kann sich das ausweiten zu ständiger:
- Frustration,
- Hilflosigkeit und
- Resignation.
Enttäuschung gleicht einem Stein, der ins Wasser geworfen wird und in Kreisen immer weitere Wellen zieht – in Gefühlen und Gedanken und hinein ins gesamte Leben.
Das ist besonders und typisch für Enttäuschung und hat einen bestimmten Grund. Nämlich die Verbindung zu allem, was dich in der Tiefe bewegt:
Vom Leben enttäuscht – tiefe Lebensthemen
Erwartungen sind untrennbar verbunden mit deinem Selbstbild, Werten und biografischen oder transgenerationalen Lebensthemen. Sie spiegeln deine Hoffnungen und Bedürfnisse.
Hier ein Beispiel: Sagen wir, eine Person geht fremd. Die andere Person ist enttäuscht (und traurig, wütend, ängstlich usw.): „Ich hätte nie gedacht, dass er mich so hintergehen würde“.
Mit was könnte diese Situation in Verbindung stehen?
- Mit dem Selbstbild: „Ich habe eine sehr gute Menschenkenntnis“
- Mit Werten: Vertrauen, Treue, Würde
- Mit Lebensthemen: Betrug, Verlassenwerden, Einsamkeit
- Mit einer Hoffnung: „Endlich jemandem begegnet sein, der wirklich treu ist und mich liebt“
- Mit einem Bedürfnis: Sicherheit in Beziehungen erleben
Siehst du, wie viel tiefe Themen mit einem Ereignis berührt werden können? Beeindruckend, oder?
Das sind die typischen Wellenkreise, die Enttäuschung ziehen kann: mit jedem Punkt sind bestimmte Erinnerungen, Gefühle, Gedanken und Empfindungen verbunden. Unsere bisherigen Erfahrungen werden hervorgekramt und verglichen. Was wir als Identität erleben, wird überprüft.
Und genau das kann zu deinem inneren Kompass werden – wenn Enttäuschung an sich kein Problem mehr für dich ist.
Was heißt das und wie geht das?
Das Problem: Enttäuschung nicht mehr ertragen können
Enttäuschung wird erst zum tatsächlichen Problem, wenn sie so unerträglich ist, dass sie dich handlungsunfähig macht. Dann lässt sie dich erstarren, lähmt dich und du bleibst hilflos-resigniert zurück.
Und…Trommelwirbel…Ideen wie „dann erwarte ich eben nichts mehr“ machen sich breit. Das ist nicht nur eine Form Gefühle zu unterdrücken. Es ist, so verstanden, auch das Aufgeben all dessen, was dir wichtig ist für dein Leben.
Gelingt es dir nicht, dich gut zu spüren und präsent deine Enttäuschung wahrzunehmen, wird sie dich überwältigen. Dir bleibt nicht viel mehr, außer weg zu sehen und dich mit diesen tiefen Themen selbst zu ignorieren.
Du triffst dann „ganz rationale“ oder völlig überstürzte Entscheidungen oder lässt alles einfach so geschehen. Du verlierst den Kontakt zu dir selbst, fühlst dich taub oder außer dir.
Das ist eine Maßnahme deines Gehirns und Nervensystems bei Überforderung, die dich vor noch mehr Schmerz bewahren möchte. Lieber ausschalten, verstecken, betäuben, vielleicht wird’s ja noch irgendwann besser. Oder man spürt es halt nicht so schlimm.
Nett von dir, Nervensystem, aber es gibt da schon noch andere Möglichkeiten.
Enttäuschung heißt nicht, dass du resignieren musst. Es ist vielmehr das Zeichen dafür, dass du jetzt ganz besonders darauf achten solltest,
- so mit deinen Gefühlen umgehen zu lernen, dass sie dich nicht überwältigen,
- nachzuspüren, welche inneren Themen berührt werden und
- bewusst zu entscheiden, wie du damit umgehen willst.
Denn Enttäuschungen haben dir etwas zu sagen.
Enttäuschungen als innerer Kompass
Sie erzählen dir einiges über dich und geben dir Antworten – unter anderem auf folgende Fragen:
- Deine Erwartungen
Was erwartest du vom Leben?
- Deine Identität
Wer und wie bist du? Wer und wie erlaubst du dir zu sein?
- Dein Menschenbild
Wie sind Menschen für dich grundsätzlich? Wie sollten sie sein?
- Dein Weltbild
Wie ist die Welt für dich grundsätzlich? Wie sollte sie sein?
- Deine Bedürfnisse
Was brauchst du für dich in deinem Leben?
- Deine Sehnsucht
Enttäuschungen ziehen diese Themen in dein Bewusstsein und das ist deine Chance. Du kannst jetzt in Verbindung zu dir treten:
Wer willst du sein und wo willst du hin?
Deine Antworten leiten dich. Das brauchst du, denn es ist an dir zu entscheiden, was du aus deinem Erwartungs-Update jetzt machst:
- Soll sich z. B. dein Bild der Welt, also etwas in dir selbst, ändern?
- Oder soll sich etwas in der Außenwelt, z. B. deine Arbeitsstelle ändern?
- Verzichtest du auf Konsequenzen aus diesem Update und alles bleibt, wie es ist?
Was das Richtige für dich ist, kannst du nur herausfinden, wenn jetzt du wach und lebendig bleibst – gerade weil du enttäuscht bist.
Das heißt auch, die kleinen „lächerlichen“ Enttäuschungen im Alltag wahr und ernst zu nehmen. Wenn du die Mini-Hinweise schon siehst, kannst du schneller erkennen, dass vielleicht etwas nicht ganz rund läuft. „Eigentlich wusste ich es doch…“, „wenn ich jetzt so zurückschaue, war es schon viel früher klar…“ – das wirst du dann weniger oft denken.
Bevor du dich gleich deiner Enttäuschung widmest und dir selbst näher kommst – hier noch eine kurze Anleitung zur Erinnerung:
Mit Enttäuschungen umgehen
- Lenke den Fokus nach innen.
Was spürst, fühlst und denkst du? Was kannst du tun, damit du davon nicht überwältigt wirst? Atme tief durch, konzentriere dich auf deine Körperempfindungen. Wenn du dich präsent und einigermaßen stabil fühlst:
- Beobachte die Wellen in deinem Inneren.
Welche Themen werden berührt? Kennst du diese Themen schon? Was ist dir wichtig? Schreib dir auf, was für Erkenntnisse du gewinnst.
- Lass dir Zeit für deine Reaktion.
Lass die Antworten auf dich wirken. Komme immer wieder zu Punkt 1. – es ist wichtig, dass du dich gut spürst und immer wieder einen klaren Kopf bekommst.
- Wähle sorgfältig aus, was diese Enttäuschung in deinem Leben für Konsequenzen haben soll.
Erwartungen können sich ändern. Erwartungen können bleiben. Du kannst dich verändern. Du kannst entscheiden.
Vergiss nicht: Das Wichtigste und Erste, um dass du dich immer kümmern solltest, ist dein Erleben. Nur wenn du mit deiner inneren Kraft verbunden bist, wirst du dich nicht mehr hilflos ausgeliefert fühlen.
Damit wird Enttäuschung an sich mit der Zeit immer weniger zum Problem, denn du musst deine eigenen Gefühle nicht mehr fürchten.
Sobald das gegeben ist, kannst du deine Enttäuschungen benutzen als eine direkte Verbindung zu deinen tiefen Themen und einem Leben, das du wirklich leben willst.
Dadurch werden deine Erwartungs-Updates feiner und deine Erwartungen besser zu dir und deinen Wünschen passen.
Häufige Fragen
Quellen
- Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, suhrkamp, 4. Auflage, 1991.
- Barrett, Lisa Feldman: How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain. 2018.