Person in beigem Kapuzenpullover hält sich die rechte Hand rechts vor das Gesicht

Immer ein schlechtes Gewissen

Was hinter ständigen Schuldgefühlen steckt und wie sie sich auswirken
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Inhaltsverzeichnis

Leben mit einem immer schlechten Gewissen

Hätte man sich doch mal anders verhalten. Etwas leiser, lauter, zuvorkommender, vorsichtiger, liebevoller, aufmerksamer, angepasster, höflicher, intelligenter, lustiger.

Würde man mal mehr tun. Mehr arbeiten, nachdenken, einkaufen, putzen, reden, zuhören, lernen. Oder weniger. Schlafen, essen, ausruhen, fernsehen.

Wäre doch mal alles endlich gut genug!

Keine Chance. Wenn du unter ständigen Schuldgefühlen leidest, dann gibt es dieses Genug nie.

Und das hat kaum noch etwas damit zu tun, wie du dich tatsächlich verhältst. Sogar wenn du glaubst, jetzt wäre mal alles ok: ein Blick genügt…„hat die mich komisch angesehen – hab ich was falsch gemacht?“ – der nächste Zweifel wartet schon.

In diesem Artikel gehe ich auf Entstehung und Auswirkungen dieser hartnäckigen Schuldgefühle ein. Je mehr du dich selbst durchschaust, desto besser kannst du etwas ändern.

Ursachen von Schuldgefühlen in der Kindheit und danach

Schlechtes Gewissen als Teil des Selbstbildes

Ständige Schuldgefühle sind eine Summe aus deinen Erfahrungen und Bewertungen: „so bin ich, so sollte ich sein und so funktioniert die Welt“.

Überzeugungen, die daraus entstehen, sind tief verankert in deinem Körper, deinen Gefühlen und Gedanken: sie werden zum unantastbaren Selbst- und Weltbild.

Solche Konzepte entstehen nicht aus dem Nichts. Vielmehr braucht es dafür viele und / oder stark emotionale Erlebnisse. Besonders prägend ist dafür die Kindheit, weil unser Gehirn sich in dieser maßgeblich entwickelt: wir lernen wie Leben geht.

Aber auch später können z. B. Gesellschaft, toxische Beziehungen und destruktive Gruppen unsere Konzepte stark beeinflussen; LINK ebenso einzelne traumatische Erlebnisse wie Unfälle, Kriege und Naturkatastrophen.

Ein Schuldgefühl entsteht und bleibt, wenn etwas in dir sie für eine nötige und wirksame Strategie hält, die das Leben für dich sicherer macht. Das kommt z. B. dabei heraus:

Schlechtes Gewissen für mehr Kontrolle

Manchmal dient ein schlechtes Gewissen als innere Kontrollinstanz, die davor schützen soll, durch vermeintliches Fehlverhalten aus einer Gruppe ausgeschlossen zu werden.

Vielleicht hast du häufig Kritik erfahren oder bist von Menschen beeinflusst worden, die auf destruktive Weise Macht über dich ausübten. Verinnerlichst du ihre Kritik und betrachtest dich selbst aus dieser Perspektive, könntest du vielleicht vermeintliche Fehler vermeiden und entgehst einer Strafe – das ist eine mögliche Logik einer Psyche.

In überwältigenden Situationen können Schuldgefühle zumindest den Anschein von Kontrolle vermitteln und so eine Art Ausweg bieten.

Vielleicht entwickelst du Schuldgefühle auch in unerträglichen Situationen, wie etwa einer Trennung. Indem du dir einredest, du hättest das Ereignis verhindern können, schaffst du zumindest in deiner Vorstellung mehr Kontrolle.

Weitere Beispiele für Schuldgefühle findest du in einem anderen Artikel, den ich für dich zusammengestellt habe.

Durchschauen des eigenen schlechte Gewissens

Bitte vergiss nicht, dass jede Psyche ihre eigenen Muster hat. Meine Ausführungen sind Beispiele und Anregungen: Niemand kann dir sagen, woher und zu welchem Zweck du Schuldgefühle hast. Du kannst sie nur selbst beobachten und kennenlernen.

Welche Funktion deine Schuldgefühle erfüllen, kannst du z. B. herausfinden, indem du dich fragst:

Was würde passieren, wenn ich mich jetzt nicht schuldig fühlen würde?

Intuitive Antworten deuten oft schnell auf dahinter liegende Grundüberzeugungen und Erfahrungen, oft verbunden mit starken Emotionen. Auf dieser tiefen Ebene lohnt es sich weiter zu forschen, mit dem Ziel das eigene Selbstbild und die Selbstbeziehung freundlicher und stabiler zu gestalten.

Trotz nachvollziehbarer, guter Grunde für Schuldgefühle sind die Auswirkungen leider oft drastisch und zerstörerisch für einen Menschen. Bedeuten kann das Folgendes:

Ungünstige Auswirkungen von Schuldgefühlen

Schuldgefühle und die Beziehung zu sich selbst

Ein schlechtes Gewissen führt oft dazu, dass versucht wird, sich von der empfundenen Schuld zu befreien. Das geschieht z. B. durch das Verbot, allzu glücklich zu sein, denn wer glücklich ist, leidet nicht – und wer nicht leidet, kann seine Schuld nicht sühnen. Wer sich schuldig fühlt, neigt dazu, sich selbst zu bestrafen.

Ob Blumen geschickt oder vorsorglich Entschuldigungen angeboten werden – das schlechte Gewissen wird dabei nur durch eine gehörige Portion Leid leiser.

Dies kann so weit gehen, dass man sich in einer Endlosschleife gefangen hält: Schuldgefühle tauchen auf, wenn es einem gut geht, was zu schlechterer Stimmung führt. Sobald sich die Schuldgefühle zurückziehen, steigt die Stimmung, die wiederum das schlechte Gewissen anfeuert – und der Kreislauf beginnt von Neuem.

Schuldgefühle und die Beziehung zu anderen Menschen

Es gibt die Variante der offensichtlichen Selbstbestrafung, bei dem man sich vorsorglich isoliert, bevor es andere tun. Andere Menschen wirken „zu gut“ und wertvolle Gemeinschaft scheint nicht mehr „verdient“ zu sein. Auf diese Weise wird dem inneren Richter bewiesen, dass es wirklich ernst gemeint ist.

Aber selbst weniger drastisch, führen übermäßige Schuldgefühlen dennoch zu merkwürdigen Schieflagen in Beziehungen: Die Einflussnahme auf das eigene Verhalten und die Gestaltung der Beziehung wird unter- oder überschätzt. Alles versinkt in ständigen Entschuldigungen oder Kritik an eigenem Fehlverhalten wird zum Weltuntergang.

Daraus entstehende Konflikte können übrigens auch intern zwischen verschiedenen inneren Anteilen ablaufen.

Schuldgefühle und die Gestaltung des eigenen Lebens

Schuldgefühle sind auf das Empfinden von Leid und Trennung ausgerichtet. Mit diesem Fokus wird ein anderes Erleben schwierig:

Unterdrücken einer Existenzberechtigung

Je umfassender sich Schuldgefühle auf die gesamte eigene Existenz beziehen, desto mehr werden Würde und Selbstachtung angegriffen. Das schwächt und verletzt.

Wer versucht, jemandem Schuldgefühle einzureden, übt aktiv psychische Gewalt aus. Wenn dies in streng religiöser Erziehung oder destruktiven Gruppen akzeptiert und mit Verweisen auf z. B. die Bibel gerechtfertigt wird, verschlimmert das die Situation.

Verhindern freier Entfaltung

Schuldgefühle unterdrücken Neugier und den Mut, Risiken einzugehen: Wer sich schuldig fühlt, soll sich schließlich fernhalten vom Leben und allem, was es mit Neugier zu entdecken gibt.

Schuldgefühle aus der Kindheit und Jugend, insbesondere wenn sie aktiv gefördert wurden, hemmen die freie Entfaltung und Entwicklung. Sie fördern die Abspaltung von den eigenen Wünschen.

Schwächen der Fähigkeit zur Selbstverteidigung

Schuldgefühle können so sehr schwächen, dass die Selbstbestimmtheit, die eigenen Ansichten und das Recht untergraben werden, sich selbst zu vertreten und angemessen zu verteidigen. Das Recht darauf wird sich selbst abgesprochen.

Binden an die Vergangenheit

Ein schlechtes Gewissen verhindert es, sich an der Gegenwart zu orientieren. Durch Schuldgefühle bleibt man verbunden mit jenen, denen (vermeintlich) etwas angetan wurde. Das kann den Abschied von Situationen oder Personen verwehren, sogar weit über den Tod oder die Beendigung eines Kontaktes hinaus.

Öffnen für ungünstigen Einfluss

Schuldgefühle schwächen die Fähigkeit, zu sich selbst zu stehen. Dies wird von Herrschenden in autoritären Systemen, wie z. B. Diktaturen oder destruktiven Gruppen, genutzt, um Macht zu demonstrieren und aufrechtzuerhalten. Dasselbe gilt auch für toxische Beziehungen und destruktive Familienstrukturen. Je mehr Schuldgefühle vorhanden sind, desto schneller wird innerlich eine entsprechende Position eingenommen.


Ich hoffe, es ist mir gelungen, dir zu zeigen, auf welche Weise Schuldgefühle zur Last werden können. Auch wenn wir ursprünglich immer gute Gründe dafür haben, ein schlechtes Gewissen zu entwickeln: Es loszuwerden lohnt sich so viel mehr als es zu behalten.