Person in dunkelblauem Kleid hält sich seitlich ein dunkelblaues Band Stoff vor das Gesicht

Was passiert, wenn du Gefühle unterdrückst

Eine Strategie zwischen Selbstschutz und Gefahr
Weiterlesen...

Inhaltsverzeichnis

Gefühle unterdrücken als Selbstschutz

Du bist mega eifersüchtig, obwohl du eigentlich weißt, dass dein*e Partner*in dir nicht fremdgeht.

Oder wütend, weil deine Chefin dir wieder nicht zuhört.

Oder traurig, weil dein*e Ex nichts mehr mit dir zu tun haben möchte.

Warum nicht einfach diese verdammten Gefühle unterdrücken? Ehrlich, warum nicht?

Es gibt – wie immer – sehr gute Gründe das zu tun. Z. B. diese beiden:

  1. Du sorgst dich um dich und deine Beziehungen. Weil du überzeugt bist, dass deine Gefühle dich zu unpassenden Handlungen verleiten. Vielleicht würde deine Wut alles zerstören? Oder du würdest am Ende noch als „hysterische Zicke“ gelten?
  2. Du hältst deine Gefühle nicht mehr aus. Zu groß, zu tief, zu stark, zu unerträglich.

Unterdrückte Gefühle bewahren dich dann vielleicht vor einer Trennung, einer Kündigung oder du ertrinkst nicht in unerträglicher Trauer. Ok! Als Notfalltrick reicht das erstmal.

Alle Menschen unterdrücken irgendwann in ihrem Leben mal ihre Gefühle. Das ist weder außergewöhnlich noch gleich ein großes Problem. Es ist eine Strategie zum Selbstschutz, wenn du gerade keine bessere hast.

Es gibt allerdings einen Haken: Gefühle zu unterdrücken kostet dich was. Wenn du das langfristig, häufig und bei sehr wichtigen Themen in deinem Leben machst, dann hast du irgendwann doch ein großes Problem.

In diesem Artikel gehe ich darauf ein, welchen,

  1. welchen Preis du vielleicht zahlst und
  2. wie du beginnen kannst, einen neuen Umgang mit Gefühlen zu finden. Spoiler: „Gefühle rauslassen“ ist es nicht.

Let’s go:

Wie sich unterdrückte Gefühle in Körper und Psyche zeigen

Körperliche Folgen unterdrückter Gefühle

Сhronisch Gefühle zu unterdrücken kann gravierende körperliche Folgen haben. Verschiedene Studien stellten vor allem einen Zusammenhang fest:

  • Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere Bluthochdruck.

Individuell und auch kurzfristig kann aber noch vieles mehr auftreten:

  • Probleme mit dem Verdauungssystem, z. B. Bauchschmerzen oder Durchfall,
  • Kopfschmerzen und Migräne,
  • starke Anspannung v.a. in den Schultern, im Nacken und Kiefer,
  • Hautausschläge,
  • Erschöpfung,
  • usw.

Nur weil du ab und zu Gefühle unterdrückst, wirst du nicht automatisch todkrank. Ganz grundsätzlich kann aber jede Art von körperlichem Symptom mit unterdrückten Gefühlen zusammenhängen.

Das muss es aber nicht. Vergiss bitte nicht, dich erstmal medizinisch untersuchen zu lassen – manchmal ist es einfach nur ein blöder Infekt und hat keine anderen, „tiefen“ Ursachen.

Darüber hinaus gibt es beobachtbare psychische Symptome unterdrückter Gefühle:

Psychische Symptome unterdrückter Gefühle

Typisch sind

  • innere Leere und innere Taubheit,
  • Verlust der Verbindung zu dir selbst,
  • Schwierigkeiten alleine zu sein,
  • emotionale Überforderung und emotionale Ausbrüche (auch bei Kleinigkeiten),
  • Schwierigkeiten dich zu entscheiden,
  • Selbstzweifel,
  • Gedankenspiralen,
  • usw.

Wenn du ständig Gefühle unterdrückst, weitet sich das aus und verdichtet sich. Das wiederum kann verschiedenen Diagnosekriterien entsprechen, wie z. B. denen einer Depression. Aber wie gesagt: es kommt immer auf das Maß an.

Wie kann es aber überhaupt zu so starken Auswirkungen auf körperlicher und psychischer Ebene kommen?

Gefühle und die Verbindung zum Körper

Psyche, Körper, Gefühle – das ist nichts Getrenntes. Alles hängt fein abgestimmt zusammen. Nur wir Menschen haben die verhängnisvolle Angewohnheit, alles separat zu betrachten und dann nichts mehr zu verstehen…;).

Gefühle kann man (nach Lisa Feldman Barrett) als verkörperte Konzepte betrachten. Sie sind nicht etwa nur Reaktionen auf äußere Ereignisse. Gefühle enthalten

  • eine Vorhersage dessen, was wohl als nächstes in und mit deinem Körper passieren wird,
  • eine Einschätzung, wie sich das auf dein Wohlbefinden auswirken wird und
  • eine passende Handlungsempfehlung.

Dazu sind deine innere und äußere Wahrnehmung wichtig, genauso wie deine bisherigen Erfahrungen. Und dann steckt in so einem komplexen Gebilde noch ganz schön viel Kraft – schließlich sollen Emotionen dich außerdem dazu bewegen, etwas Bestimmtes zu tun. Wut passt z. B. gut zu einem Kampf oder Angst zu einer schnellen Flucht.

Ein Gefühl tritt also nicht zufällig auf, sondern ist im Gegenteil von deinem Körper inkl. Gehirn für einen bestimmten Zweck genau ausgewählt. Ich habe das in einem eigenen Artikel nochmal ausführlich beschrieben.

Andersherum bedeutet das: wenn du diese verkörperten Konzepte unterdrückst, wirkt sich das eben nicht nur auf ein unangenehmes Gefühl, sondern auch auf deinen Körper, deine Gedanken und dein restliches Leben aus.

Das passiert dabei im Detail:

Wie unterdrückt man Gefühle?

Wahrnehmung und Interpretationen ignorieren.

Wenn du ein Gefühl nachhaltig unterdrücken willst, reicht es nicht das komische „ich fühl mich so mies“ mal nicht so ernst zu nehmen. Je nachdem, wie wichtig dir das Nicht-Fühlen ist, musst du alles, was zu diesem Gefühl gehört, unterdrücken – das ganze komplexe Gebilde.  

Das heißt für ein Gefühl wie Eifersucht z. B.:

  1. das Herzklopfen, den Schweiß auf deiner Stirn, die leichte Gänsehaut im Nacken oder das flaue Ziehen im Magen,
  2. auch was direkt vor deinen Augen passiert, z. B. den Flirt zwischen deiner*m Partner*in und deiner Cousine,
  3. und deine Einschätzung von „meine Cousine ist attraktiver“ und „oh nein, vielleicht werde ich verlassen, das wird sich schrecklich überfordernd anfühlen“.

Das kriegst du hin, indem du das alles ignorierst bzw. betäubst. Die Möglichkeiten sind unendlich: von Alkohol bis Netflix.

Handlungen und Impulse stoppen.

Außerdem stoppst du gleichzeitig das, wofür ein Gefühl ausgewählt wurde: bestimmte Handlungen und Impulse.

Das kann z. B. so etwas sein wie weglaufen, um dich schlagen, etwas sagen oder dich ducken. In unserem Beispiel, wäre es vielleicht das Anschreien und Wegschubsen deiner Cousine.

Dafür stellt dein Körper eine Menge Energie bereit. Es geht ja um dein Wohlbefinden und du sollst gut für dich sorgen können. Dem etwas entgegenzuhalten braucht entsprechend viel Kraft. Deswegen ist es auch unglaublich anstrengend Gefühle zu unterdrücken.

Den Preis dafür zahlen – abstumpfen.

Auf Dauer hat das gravierende Folgen: Dann spürst du nicht nur das flaue Ziehen im Magen nicht. Du spürst den ganzen Magen nicht mehr.

Genauso ist es mit deinem Kiefer, deinem Nacken oder deinen Hüftgelenken. Außer sie fangen an so weh zu tun, dass du es dann echt schwer noch ignorieren kannst…(was umgekehrt aber nicht heißt, das jeder Schmerz ein unterdrücktes Gefühl ist).

Das gilt ebenso für deine restliche Wahrnehmung und deine Einschätzungen: du siehst nicht mehr so genau hin und schiebst schwierige Gedanken weg. Ursprüngliche Empfehlungen für Handlungen oder Impulse können dich nicht mehr erreichen.

Vielmehr spürst du höchstens noch die Anstrengung, die du gegen die Kraft deiner Gefühle aufwendest. Sie sitzt dann z. B. in deinen steinhart verspannten Schultern und der ständigen Erschöpfung.

Mehr als ein „nur ein Gefühl“: das Leben unterdrücken

Und das kann ein Grund dafür sein, warum du nicht nur das bisschen Eifersucht nicht mehr fühlst, sondern dein ganzes Leben irgendwie trostlos wird: Du spürst dich selbst nicht mehr.

Und deswegen hast du auch keine Grundlage mehr für Freude, Glück und Lebendigkeit. Ein Gefühl dauerhaft zu unterdrücken, kann daher auch andere Gefühle zum Verschwinden bringen, die du eigentlich behalten wolltest.

So lebst du ein Leben, in dem du meistens funktionierst, aber auch immer weniger einschätzbar für dich und andere wirst

  • Du fühlst gar keine Gefühle mehr so richtig und alles ist ein bisschen betäubt.
  • Du explodierst plötzlich oder sagst Dinge, von denen du gar nicht mehr wusstest, dass sie dich beschäftigen.
  • Du bist zwar irgendwie zufrieden, aber auch immer irgendwie unzufrieden mit deinem Leben.
  • In bestimmten Situationen, bei bestimmten Themen oder Menschen treten immer starke körperliche Symptome auf, unter denen du leidest ohne sie einordnen zu können.
  • Du hast den Eindruck, an dir vorbei zu leben.
  • Dir fehlt innerlich der Bezug zu Themen, von denen du weißt, dass sie dich eigentlich berühren (würden).
  • usw.

Wie kann es soweit kommen?

Gute Gründe, um Gefühle zu unterdrücken

Ich hatte ganz am Anfang ja schon mal festgestellt, dass es gute Gründe gibt, Gefühle zu unterdrücken. Das bedeutet: du machst das nicht eben mal zum Spaß oder weil du „emotional inkompetent“ bist.

Du unterdrückst Gefühl vermutlich, weil du es als sinnvolle und wirksame Methode kennengelernt hast, um mit dir umzugehen. Wie die meisten von uns:

Wie wir lernen, mit Gefühlen umzugehen

Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir komplett abhängige kleine Wesen: wenn sich niemand um uns kümmert, sterben wir. Genau in dieser Zeit, bis wir ein bisschen weniger abhängig sind, beginnen wir zu lernen, wie die Welt und speziell, wie Beziehungen funktionieren. Gleichzeitig bildet sich unser Nervensystem vollständig aus, unser Gehirn vernetzt sich stark und wir entwickeln unsere Gefühle.

Wie wohl wir uns mit uns und dem Leben fühlen, hängt davon ab, wie sicher wir uns fühlen. Das tun wir nur, wenn wir gut versorgt werden – sowohl mit Nahrung u.Ä. als auch mit Zuneigung und Präsenz unserer Bezugspersonen. Durch sie lernen wir dann nämlich, das Herausforderungen nichts Schlimmes sind. Dass es sogar Spass machen kann, die eigene (innere) Kraft zu nutzen, um etwas zu erleben oder zu überwinden.

Für unsere Gefühle heißt das: wir lernen, dass Gefühle nichts Schlimmes sind und wie wir damit gut umgehen können.

Das ist der Idealfall. Und den gibt es leider selten.

Wie wir lernen, Gefühle zu unterdrücken

Stattdessen lernen wir sowas wie:

  • „wenn ich wütend bin, wendet man sich von mir ab“
  • „wenn ich traurig bin, lacht man mich aus“
  • „wenn ich ängstlich bin, nimmt man mich nicht ernst“
  • usw.

Da wir ja noch völlig abhängige kleine Wesen sind, ist das eine Katastrophe. Denn: wenn sich niemand um uns kümmert, sterben wir. Also probieren wir einiges aus und stellen fest: wenn niemand merkt, dass ich wütend, traurig, ängstlich etc. bin, ist alles in Ordnung. Besonders gut funktioniert dieses Verstecken, wenn wir es auch selbst nicht mehr merken. Alles andere würde ja sowieso nur Überforderung bedeuten.

Das ist der Zeitpunkt, an dem wir lernen, dass es eine richtig gute Strategie sein kann, Gefühle zu unterdrücken. Und eine andere haben wir auch nicht. Also, ganz schön clever, uns so zu verhalten.

Jetzt könnte man meinen, es wäre einfach, das als erwachsene Person anders zu machen. Wir sind ja jetzt weniger abhängig, können selbst für uns sorgen usw..

Stimmt nicht ganz. Denn dazu müssten wir ja erstmal wissen, wie man sonst noch sinnvoll und wirksam mit starken Gefühlen umgehen könnte. Tja…

Stattdessen bleibt es dabei: alles, was sich zu unangenehm anfühlt, muss schnell weg.

Neu mit Gefühlen umgehen zu lernen, ist eine Kunst. Man kann das lernen, aber es braucht etwas Zeit und Hingabe. Damit du schon mal anfangen kannst, habe ich dir zum Schluß noch drei Tipps zusammengestellt.

Unterdrückte Gefühle befreien

Nicht in die Vergangenheit analysieren.

Vielleicht hast du jetzt das Verlangen endlich mal „in dir aufzuräumen“. Herauszufinden, warum du genau was wieso unterdrückst bzw. unterdrückt hast. Dafür gibt es sogar ganze Therapierichtungen – z. B. die klassische Psychoanalyse.

Grobe biographische Zusammenhänge zu verstehen oder auch neu zu gestalten, kann sinnvoll sein, keine Frage. Das hilft dir unter anderem deine Lebensgeschichte einzuordnen. Um jetzt schnell besser mit Gefühlen klarzukommen, ist das aber m.E. nicht der passende Zugang bzw. Zeitpunkt.

Jeden Zustand, in dem du dich in der Gegenwart befindest, stellst du – bewusst oder unbewusst – in diesem Moment selbst her. Das heißt, wenn du deine Füße kaum spürst, dann gibt es jetzt Prozesse in deinem Körper, deinem Gehirn und deiner Psyche, die einen Zustand kreeiern, der dafür sorgt, dass du sie kaum spürst. Also geht es auch darum, jetzt festzustellen, wie du diesen Zustand ändern kannst.

Du musst nicht als erstes in irgendeinen imaginären dunklen Keller in dir steigen und da irgendetwas hoch holen. Füße spüren lernen und weiter atmen, wenn es heikel wird – das reicht für den Anfang.

Auftauen – unterdrückte Gefühle erkennen.

Wie kannst du wieder spüren, was du betäubt hast? Nimm den körperlichen Weg. Fang an, jeden Millimeter, innen und außen, neu zu erspüren und kennenzulernen:

  • spüre ich meine Hände? Ok ja, die Fingerspitzen, aber das Daumengelenk, naja… – wie ist es mit den Armen, Schultern, Bauch, Beine, Füße, Becken?
  • woran merke ich, dass ich etwas nicht spüre? Wie spürt sich dieses Nichts an?
  • und was passiert, wenn ich das, was ich nicht spüre berühre, knete, kneife?

Hier fängt deine Reise an. Damit lernst du eigene Intensität zu halten und fließen zu lassen. Du brauchst dich, deinen Körper und deinen tiefen Atem. Worte, Erinnerungen und der Rest kommen danach.

Das ist etwas anderes als das übliche „Gefühle rauslassen“. Das impliziert oft, das Gefühle verschwinden, wenn man sie irgendwie ausagiert (was nicht unbedingt passiert). Und es zielt häufig darauf ab, kurzfristig ein Ventil zu öffnen, um es dann wieder zu schließen und alles beim Alten zu belassen.

Das kann schon mal gut sein und das eigene Erleben bereichern. Für nachhaltige Veränderungen ist oft aber differenziertes Arbeiten nötig: Als Ergebnis kannst du z. B. deine Wut im ganzen Körper als deine innere Kraft spüren und dich von ihr beleben lassen – und gleichzeitig mit klarem Geist ein sinnvolles Gespräch ohne „Wutanfall“ führen.

Und noch mein letzter wichtiger Tipp:

Deinen Gefühlen misstrauen.

Gefühle sind ein Vorschlag – das heißt aber noch lange nicht, dass sie nützlich oder passend sind.

Erinnerst du dich noch an das obige Beispiel mit der Eifersucht – dein Herz klopft, du wirst links liegen gelassen und deine Cousine ist attraktiver als du? Andere Variante: Du hast einen Kaffee zu viel getrunken, darum das Herzklopfen. Und „der ganze Abend“, den du schon ignoriert wirst, ist die dramatische Variante der letzten zehn Minuten – in denen deine Partner*in sich von deiner Cousine gerade Tipps für einen romantischen Überraschungs-Urlaub für dich holt.

Ist da Eifersucht das passende Konzept? Bist du eifersüchtig oder einfach nur unruhig? Gibt es noch andere Möglichkeiten zu fühlen?

Gefühle sind in Einzelteile zerlegbar und veränderbar. Für den Anfang ist ihre Basis das Wichtigste: die Körperempfindung.

Also: in der nächsten schwierigen Situation, frage dich neben „was fühle ich gerade?“, auch „was spüre ich gerade?“. Mit Herzklopfen umzugehen ist einfacher als mit Eifersucht. Probier’s aus und berichte mir gerne.

Häufige Fragen

Quellen

  1. Mund, Marcus / Mitte, Kristin: The costs of repression: a meta-analysis on the relation between repressive coping and somatic diseases. Health Psychology, 31/5, 2012.
  2. Feldman Barrett, Lisa: How Emotions Are Made: The Secret Life of the Brain. 2018.